Die Rede von Franz Schindler zum 150. Geburtstag

Seit Dienstag, den 6. August, ist in der Weidner Regionalbibliothek die Wanderausstellung "150 Jahre Sozialdemokratie" zu sehen. Eröffnet wurde diese mit einer unglaublichen Festrede des SPD-Berzirksvorsitzenden und Landtagsabgeordneten Franz Schindler. Wir haben ihn gebeten diese veröffentlichen zu dürfen und er hat ja gesagt.

MdL Franz Schindler (SPD)
MdL Franz Schindler (SPD)

von Franz Schindler, 6. August 2013 - Regionalbibliothek Weiden:

 

 

"Die Zeitungen waren in den letzten Wochen voll mit lobenden Worten und netten Kommentaren über die Sozialdemokratie. Auch Konservative und Liberale haben die SPD anlässlich ihres 150-jährigen Gründungsjubiläums gelobt und ihre historische Rolle gepriesen.

Da war die Rede davon, dass die SPD unbändig stolz sein dürfe auf das, was sie in ihren 150 Jahren geleistet und geschaffen hat, dass sie ihrem Namen alle Ehre gemacht habe, weil sie es geschafft hat, das Soziale und das Demokratische zusammenzubringen, weil sie es geschafft hat, aus Proleten Bürger mit gleichen Rechten, bescheidenem Wohlstand und Rechten, nicht nur auf Almosen, zu machen,

 

weil sie es geschafft hat, die Freiheit des Einzelnen und seine Würde in den Mittelpunkt zu stellen, weil sie es durch ihre Politik geschafft hat, Millionen von Menschen Lebenschancen zu geben und weil sie immer internationalistisch, europafreundlich und nie nationalistisch war.

So sehr es uns auch immer gefallen hat und bis heute gefällt, wenn uns ein CSU-Ministerpräsident oder ein Wirtschaftskapitän oder ein katholischer Leitartikler der Süddeutschen Zeitung loben, das Lob war und ist vergiftet:Es sind nämlich immer auch gleich die Fragen angefügt worden, SPD – wozu ? (SZ, Prantl v. 18./19./20.05.2013) und ob die SPD „mission accomplished“, also ihre Mission erfüllt habe, aus der Zeit gefallen ist und sich überlebt habe, und dann sind auch gleich die Antworten mitgeliefert worden, dass die SPD eigentlich alle ihre Ziele erreicht habe, gerade wegen ihres Erfolgs nicht mehr gebraucht werde, zumal angeblich auch alle anderen Parteien „sozialdemokratisiert“ seien.

 

Die SPD solle sich deshalb am besten als Weltkulturerbe eintragen lassen und von der politischen Bühne verschwinden.

 

Richtig ist, dass viele Anliegen der SPD aus der Gründerzeit erfüllt sind.

 

Aus geschundenen Proleten sind Staatsbürger mit gleichen Rechten geworden, das Dreiklassenwahlrecht und die Gesindeordnung sind abgeschafft und die 40-Stunden Woche ist Realität, Frauen dürfen wählen, alle haben grundsätzlich Zugang zu Bildung, der Wohlstand ist zwar ungleich verteilt, dennoch muss keiner hungern und auch die Aussöhnung mit unseren Nachbarn ist gelungen, wir leben seit 70 Jahren ununterbrochen in Frieden und haben ein demokratisches Europa.

 

Das war und ist aber nicht der zwangsläufige Gang der Dinge, der auch ohne die Sozialdemokratie gekommen wäre, sondern das Ergebnis von harten und langwierigen Kämpfen der Arbeiterbewegung und im speziellen der Sozialdemokratie, nicht nur in Deutschland, die immer gegen die politischen Vorgänger derjenigen, die jetzt meinen, uns Ratschläge und nette Worte angedeihen lassen zu müssen, ausgefochten werden mussten.

 

Die SPD war schon für Tarifverträge und eine anständige Bezahlung der Arbeiter, als die anderen noch die Gesindeordnung verteidigt haben,

war schon für das allgemeine und gleiche Wahlrecht, als die anderen noch das Dreiklassenwahlrecht verteidigt haben,

war schon für die Gleichberechtigung der Frauen, als die anderen noch -bis 1957- Frauen an den Herd verdammen und sie allenfalls als industrielle Reservearmee dulden wollten,

und die SPD war schon für ein vereintes Europa, als die anderen noch auf Revanche aus waren und gleich nach dem ersten schon den zweiten Weltkrieg vorbereitet haben.

 

Es war nicht der zwangsläufige Gang der Dinge, sondern immer das Ergebnis von Kämpfen von Männern und Frauen, die nicht nur gejammert, sondern sich gekümmert haben und bereit waren, für ihre Grundüberzeugungen Nachteile bis hin zu Verfolgung und Vertreibung in Kauf zu nehmen und von denen viele mit ihrer Gesundheit und sogar dem Tod bezahlt haben.

 

Ich sage das voller Pathos und Stolz, weil es viele gar nicht mehr wissen und vor allem diejenigen, die erst vor kurzem auf der poltischen Bühne erschienen sind, von den sog. Freien Wählern bis zu den Piraten, keinerlei Geschichtsbewusstsein haben.

 

150 Jahre SPD sind aber nicht nur Grund zu Freude und Stolz, sondern zugleich auch eine Last und Bürde für die jetzt in der Sozialdemokratie aktiven Männer und Frauen, weil wir eine Vergangenheit haben und weil wir denjenigen, die vor uns unter viel schwierigeren Bedingungen gekämpft haben, auch etwas schuldig sind, nämlich, nicht aufzugeben, sondern im Bewusstsein der Geschichte jetzt die richtigen Antworten auf die neue Zeit zu geben.

 

Es war kein geradliniger und unaufhaltsamer Weg von 1863 bis 2013, im Gegenteil, es gab neben den vielen Erfolgen auch Rückschläge, Abwege, Irrwege, Umwege und Zeiten der Hoffnungslosigkeit und Resignation, es gab Zeiten der Verbote und Verfolgungen, 1878 und 1933, Zeiten der Spaltungen (1914 ff.) und Abspaltungen, und es gab die Zeit der Zwangsvereinigung und dann auch der Wiedervereinigung.

 

Und es gab Zeiten, als die Sozialdemokratie mehr als eine Million Mitglieder hatte und es gab Zeiten, wie auch aktuell, wo wir nicht einmal halb so viele sind, es gab Zeiten, da waren Vorsitzende jahrzehntelang im Amt und es gab Zeiten, da wechselten die Vorsitzenden alle paar Monate, es gab die Zeit, als die SPD die Partei der Arbeiter und kleinen Handwerker war, angeführt von charismatischen Intellektuellen und die Zeit, als sie auch die Partei der Cafehaus-Literaten und Künstler war, und die Zeit, als die SPD vornehmlich die Partei der gewerkschaftlich organisierten Arbeiteraristokratie und der neuen technischen Intelligenz war und Zeiten, als die SPD vornehmlich die Partei der Lehrer und Beamten war. Und es gab die Zeit, als die Partei der Kern eines sozialdemokratischen Milieus war, als sie zusammen mit den Gewerkschaften eine Gegengesellschaft aufgebaut hat, mit Arbeiterbildungsvereinen, Arbeiter-Sportvereinen, Arbeiter-Gesangsvereinen, dem Rad- und Kraftfahrerbund Solidarität, mit den Naturfreunden, den Arbeiter-Samaritern und Abstinenzlern, den Konsum-Genossenschaften und der Arbeiterwohlfahrt.

 

Da war es oft miefig, aber das Milieu hat gewärmt, Sozialdemokratie war mehr als nur ein Instrument zur Machterringung, sondern hat einen Gegenentwurf zu den herrschenden Verhältnissen vorgelebt, was sich manche der heutigen Strategen in ihren Internet-blogs und mit ihren facebook-accounts und Twitter-tweeds gar nicht mehr vorstellen können.

 

Es gab Zeiten der großen Hoffnungen, 1890 und 1918, als eine neue Zeit anzubrechen schien, es gab aber auch Zeiten der Depression und der Niederlagen, 1878 und 1933.

 

Die Stunde der bittersten Niederlage aller Demokraten und der Sozialdemokratie im Jahr 1933, als aus einem Land der Dichter und Denker ein Land der Mörder und Verbrecher geworden ist und es nur die Sozialdemokraten waren, die den Mut hatten, im Reichstag und in den Landtagen gegen die Machtübertragung an die Nazis zu stimmen, war zugleich die Stunde ihres größten moralischen Triumphes, die bis heute sozialdemokratische Identität stiftet. Wie viel Leid wären diesem Land und der halben Welt erspart geblieben, wenn die sog. bürgerlichen Kreise der Ermächtigung der Nazis nicht zugestimmt hätten ?

 

Warum hat es die Sozialdemokratie -im Gegensatz zu allen anderen jetzigen politischen Mitbewerbern- geschafft, 150 Jahre zu überstehen, die Verfolgungen im Kaiserreich und im reaktionären Königreich Bayern , die Wirren der Weimarer Republik, die Verfolgung und Unterdrückung während des 12 Jahre dauernden „Tausendjährigen Reiches“, die Zwangsvereinigung und Unterdrückung in der SBZ und der späteren DDR ?

 

Nicht, weil wir immer die besseren Menschen in unseren Reihen hatten, auch nicht, weil wir immer die besten Antworten auf irgendwelche tagesaktuellen Probleme hatten, sondern weil die Grundwerte der Sozialdemokratie, nämlich der Schutz des Einzelnen vor Elend und Unterdrückung, das Streben nach Gerechtigkeit bereits im hier und heute und nicht das Vertrösten auf die überirdische Gerechtigkeit, die Solidarität mit den Schwachen, nicht nur im eigenen Land, sondern überall und das Eintreten für Frieden im Inneren und in der Welt, nichts anderes sind als die Kernbestandteile jeder humanen Gesellschaft, die ewig richtig sind und zwar überall auf der Welt.

 

Es geht um die Würde des einzelnen Menschen, im Godesberger Programm genauso wie in der Katholischen Soziallehre und im Grundgesetz. Damit verträgt es sich nicht, ihn zum Objekt zu machen und als billige Arbeitskraft zur Mehrung des Reichtums einzelner auszubeuten.

 

Weil der Mensch ein Mensch ist, ist er frei geboren und soll es auch bleiben und hat er Anspruch darauf, seine Talente zu nutzen, sich zu bilden und frei zu entscheiden, was er damit macht, und weil nicht alle gleich sind, sind diejenigen, denen es gut und besser geht, verpflichtet, den anderen zu helfen und weil jeder nur ein Leben hat, ist jedes genauso wertvoll wie das der anderen.

Das kann man schon im alten Testament nachlesen, bei Karl Marx genauso wie bei Augustinus und Jean-Paul Sartre.

 

150 Jahre Sozialdemokratie sind auch 150 Jahre Kampf für die Demokratie:

 

Der Staat des Kaiserreichs und noch viel mehr der Nazi-Staat, aber auch die DDR waren Herrschafts- und Unterdrückungsinstrumente. Der moderne demokratische Staat hat einen anderen Zweck, er ist die Organisationsform einer komplexen Gesellschaft und hat die Aufgabe, die Würde des einzelnen zu schützen und den Frieden nach innen und außen zu gewährleisten. Das ist nicht mehr der Staat der ostelbischen Krautjunker und Großgrundbesitzer und auch nicht der Staat der Industriebarone und der Großbanken und des Finanzkapitalismus, sondern auch unser Staat , in dem nicht mehr das Recht des Stärkeren zählt, sondern die Stärke des Rechts, in dem die Mehrheit entscheidet und Minderheiten geschützt werden.

 

Demokratie ist aber nur eine Organisationsform, wenn sie nicht zugleich auch rechtsstaatlich und sozial ausgerichtet ist. Die Freiheitsrechte, die Menschenrechte, die politischen Rechte brauchen ein Fundament, auf dem sie sich entwickeln können und das ist der Sozialstaat, weil zuerst das Fressen kommt und dann die Moral.

 

Es war leicht, nach der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte gegen den zügellosen Kapitalismus und für die soziale Marktwirtschaft einzutreten. Viel schwieriger war es schon, das gleiche vorher zu tun und es bis heute in Zeiten des Turbo-Kapitalismus nicht aufzugeben. Wir brauchen deshalb keine Belehrungen und Lobreden von sog. Herz-Jesu-Marxisten, die immer dann, wenn es darauf angekommen wäre, umgefallen sind und die bis heute gedrängt werden müssen, z.B. gesetzliche Mindestlöhne einzuführen.

 

Wir wollen und brauchen einen starken Staat im Interesse der Schwachen und der kleinen Leute. Nur die Reichen können sich einen schwachen Staat leisten, weil sie sich kaufen können, was sie brauchen.

 

Die Sozialdemokratie war und ist auch die Partei von „law and order“, nicht im Sinne eines Polizeistaats, sondern im Sinne des Rechtsstaats. Wir sind auch eine bürgerliche Partei in dem Sinne, dass wir für die Bürgerrechte der Staatsbürger eintreten und nicht für die Besitzstände der Klein- und Großbürger. Wenn sich die anderen heute gerne als „bürgerliche“ Parteien bezeichnen und uns damit ausgrenzen wollen, schwillt mir der Kamm.

 

Demokratie funktioniert heute anders als früher. Die Zeit als Politik in Hinterzimmerversammlungen gemacht worden ist, ist vorbei. Viele sind „verdrossen“, andere wollen jede noch so unbedeutende Frage zum Gegenstand immerwährender Diskussionen im anonymen Netz machen, ohne Verantwortung für Entscheidungen übernehmen zu wollen. Demokratie funktioniert heute anders als vor 150 Jahren, die Feinde der Demokratie aber auch. Geschichte widerholt sich nicht, aber wir müssen alles dafür tun, nie wieder so schwach zu sein, dass sich die Feinde der Demokratie noch einmal durchsetzen können. Es ist deshalb nicht nur empirisch gesehen falsch, sondern auch politisch naiv, zu behaupten, die Sozialdemokratie habe ihre geschichtliche Mission erfüllt und könne schadlos von der politischen Bühne abtreten.

 

Ich bin ganz anderer Meinung und davon überzeugt, dass die SPD auch im 21. Jahrhundert trotz gelegentlicher Formschwächen eine gute Zukunft hat, weil die Ideen, von denen Otto Wels 1933 gesprochen hat, nämlich die Freiheit des Einzelnen, das Streben nach Gerechtigkeit und das Prinzip der Solidarität ewig und unzerstörbar und heute genauso aktuell sind wie vor 150 oder vor 100 Jahren.

 

Die SPD hat eine gute Zukunft, wenn sie den Rat von Willy Brandt befolgt und auf der Höhe der Zeit bleibt, und das heißt heute, wir müssen die Partei der kleinen Leute bleiben und nicht die Partei der Bosse werden wollen, es geht nicht darum, die Demokratie marktkonform zu machen, sondern umgekehrt, die Finanzmärkte so zu regulieren, dass sie demokratiekonform werden, dafür zu kämpfen, dass die Menschen ohne soziale Not leben können, die Kinder und Jungen, die Mütter mit Kindern ebenso wie die Aktiven und die Alten, dafür zu kämpfen, dass sie keine Angst haben müssen, keinen Platz in der Gesellschaft zu finden, von ihrer Arbeit nicht leben und im Alter von ihrer Rente nicht überleben zu können, dafür zu kämpfen, dass Demokratie in Zeiten von Politikverdrossenheit und Wutbürgern fortentwickelt und wieder mehr Demokratie gewagt wird, die sich nicht in einer „liquid democracy“ im Netz erschöpfen darf, in der es keine Identität und keine Verantwortung gibt. Sozialdemokratische Politik war und ist immer auch „klein, grau, hässlich und schweißtreibend“, wie es Wolfgang Thierse vor kurzem genannt hat.

 

Sozialdemokraten dürfen den Menschen keine Angst machen, sondern Hoffnung. Wir brauchen deshalb auch eine Utopie, eine Vision, eine Erzählung von einer gerechten Gesellschaft, wohin die vielen kleinen grauen schweißtreibenden Schrittchen führen sollen, nämlich zu einer besseren Welt. Und damit beginnt man am besten in Weiden und Rothenstadt und nicht erst in Brüssel und bei der UNO.

 

Ich rede deshalb gegen Verzagtheit und Kleinmut. Wir können stolz auf unser Erbe sein und haben Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft und keinen Grund, uns zu schämen und selbst zu verleugnen.

 

Wir müssen dabei aber mehr sein wollen als nur das „kleinere Übel“. So schlecht waren unsere Leute, ob in der Bundesregierung oder im Gemeinderat nie, dass sie nicht immer besser waren als viele andere. Aber das reicht nicht. Ziel muss es sein, von den Menschen nicht als das kleinere Übel, sondern als die größere Hoffnung wahrgenommen zu werden, dann sind wir auch wieder mehrheitsfähig."

Die Zeitungen waren in den letzten Wochen voll mit lobenden Worten und netten Kommentaren über die Sozialdemokratie. Auch Konservative und Liberale haben die SPD anlässlich ihres 150-jährigen Gründungsjubiläums gelobt und ihre historische Rolle gepriesen.

Da war die Rede davon, dass die SPD unbändig stolz sein dürfe auf das, was sie in ihren 150 Jahren geleistet und geschaffen hat,

dass sie ihrem Namen alle Ehre gemacht habe,

weil sie es geschafft hat, das Soziale und das Demokratische zusammenzubringen,

weil sie es geschafft hat, aus Proleten Bürger mit gleichen Rechten, bescheidenem Wohlstand und Rechten, nicht nur auf Almosen, zu machen,

weil sie es geschafft hat, die Freiheit des Einzelnen und seine Würde in den Mittelpunkt zu stellen,

weil sie es durch ihre Politik geschafft hat, Millionen von Menschen Lebenschancen zu geben

und weil sie immer internationalistisch, europafreundlich und nie nationalistisch war.

 

 

So sehr es uns auch immer gefallen hat und bis heute gefällt, wenn uns ein CSU-Ministerpräsident oder ein Wirtschaftskapitän oder ein katholischer Leitartikler der Süddeutschen Zeitung loben, das Lob war und ist vergiftet:

 

Es sind nämlich immer auch gleich die Fragen angefügt worden,

SPD – wozu ? (SZ, Prantl v. 18./19./20.05.2013)

 

und ob die SPD „mission accomplished“, also ihre Mission erfüllt habe,

aus der Zeit gefallen ist und sich überlebt habe,

 

und dann sind auch gleich die Antworten mitgeliefert worden,

dass die SPD eigentlich alle ihre Ziele erreicht habe,

gerade wegen ihres Erfolgs nicht mehr gebraucht werde,

zumal angeblich auch alle anderen Parteien „sozialdemokratisiert“ seien.

 

Die SPD solle sich deshalb am besten als Weltkulturerbe eintragen lassen und von der politischen Bühne verschwinden.

 

Richtig ist, dass viele Anliegen der SPD aus der Gründerzeit erfüllt sind.

Aus geschundenen Proleten sind Staatsbürger mit gleichen Rechten geworden, das Dreiklassenwahlrecht und die Gesindeordnung sind abgeschafft und die 40-Stunden Woche ist Realität, Frauen dürfen wählen, alle haben grundsätzlich Zugang zu Bildung, der Wohlstand ist zwar ungleich verteilt, dennoch muss keiner hungern und auch die Aussöhnung mit unseren Nachbarn ist gelungen, wir leben seit 70 Jahren ununterbrochen in Frieden und haben ein demokratisches Europa.

 

Das war und ist aber nicht der zwangsläufige Gang der Dinge, der auch ohne die Sozialdemokratie gekommen wäre, sondern das Ergebnis von harten und langwierigen Kämpfen der Arbeiterbewegung und im speziellen der Sozialdemokratie, nicht nur in Deutschland, die immer gegen die politischen Vorgänger derjenigen, die jetzt meinen, uns Ratschläge und nette Worte angedeihen lassen zu müssen, ausgefochten werden mussten.

 

Die SPD war schon für Tarifverträge und eine anständige Bezahlung der Arbeiter, als die anderen noch die Gesindeordnung verteidigt haben,

war schon für das allgemeine und gleiche Wahlrecht, als die anderen noch das Dreiklassenwahlrecht verteidigt haben,

war schon für die Gleichberechtigung der Frauen, als die anderen noch -bis 1957- Frauen an den Herd verdammen und sie allenfalls als industrielle Reservearmee dulden wollten,

und die SPD war schon für ein vereintes Europa, als die anderen noch auf Revanche aus waren und gleich nach dem ersten schon den zweiten Weltkrieg vorbereitet haben.

 

Es war nicht der zwangsläufige Gang der Dinge,

sondern immer das Ergebnis von Kämpfen von Männern und Frauen, die nicht nur gejammert,

sondern sich gekümmert haben und bereit waren, für ihre Grundüberzeugungen Nachteile bis hin zu Verfolgung und Vertreibung in Kauf zu nehmen und von denen viele mit ihrer Gesundheit und sogar dem Tod bezahlt haben.

 

Ich sage das voller Pathos und Stolz, weil es viele gar nicht mehr wissen und vor allem diejenigen, die erst vor kurzem auf der poltischen Bühne erschienen sind, von den sog. Freien Wählern bis zu den Piraten, keinerlei Geschichtsbewusstsein haben.

 

 

150 Jahre SPD sind aber nicht nur Grund zu Freude und Stolz, sondern zugleich auch eine Last und Bürde für die jetzt in der Sozialdemokratie aktiven Männer und Frauen, weil wir eine Vergangenheit haben und weil wir denjenigen, die vor uns unter viel schwierigeren Bedingungen gekämpft haben, auch etwas schuldig sind, nämlich, nicht aufzugeben, sondern im Bewusstsein der Geschichte jetzt die richtigen Antworten auf die neue Zeit zu geben.

 

Es war kein geradliniger und unaufhaltsamer Weg von 1863 bis 2013, im Gegenteil, es gab neben den vielen Erfolgen auch Rückschläge, Abwege, Irrwege, Umwege und Zeiten der Hoffnungslosigkeit und Resignation,

 

es gab Zeiten der Verbote und Verfolgungen, 1878 und 1933,

Zeiten der Spaltungen (1914 ff.) und Abspaltungen,

und es gab die Zeit der Zwangsvereinigung und dann auch der Wiedervereinigung.

 

Und es gab Zeiten, als die Sozialdemokratie mehr als eine Million Mitglieder hatte und es gab Zeiten, wie auch aktuell, wo wir nicht einmal halb so viele sind,

 

es gab Zeiten, da waren Vorsitzende jahrzehntelang im Amt und es gab Zeiten, da wechselten die Vorsitzenden alle paar Monate,

 

es gab die Zeit, als die SPD die Partei der Arbeiter und kleinen Handwerker war,

angeführt von charismatischen Intellektuellen und

die Zeit, als sie auch die Partei der Cafehaus-Literaten und Künstler war,

und die Zeit, als die SPD vornehmlich die Partei der gewerkschaftlich organisierten Arbeiteraristokratie und der neuen technischen Intelligenz war

und Zeiten, als die SPD vornehmlich die Partei der Lehrer und Beamten war.

 

Und es gab die Zeit, als die Partei der Kern eines sozialdemokratischen Milieus war, als sie zusammen mit den Gewerkschaften eine Gegengesellschaft aufgebaut hat,

 

mit Arbeiterbildungsvereinen,

Arbeiter-Sportvereinen,

Arbeiter-Gesangsvereinen

dem Rad- und Kraftfahrerbund Solidarität,

mit den Naturfreunden,

den Arbeiter-Samaritern und Abstinenzlern,

den Konsum-Genossenschaften

und der Arbeiterwohlfahrt.

 

Da war es oft miefig, aber das Milieu hat gewärmt, Sozialdemokratie war mehr als nur ein Instrument zur Machterringung, sondern hat einen Gegenentwurf zu den herrschenden Verhältnissen vorgelebt, was sich manche der heutigen Strategen in ihren Internet-blogs und mit ihren facebook-accounts und Twitter-tweeds gar nicht mehr vorstellen können.

 

Es gab Zeiten der großen Hoffnungen, 1890 und 1918, als eine neue Zeit anzubrechen schien,

es gab aber auch Zeiten der Depression und der Niederlagen, 1878 und 1933.

 

Die Stunde der bittersten Niederlage aller Demokraten und der Sozialdemokratie im Jahr 1933,

als aus einem Land der Dichter und Denker ein Land der Mörder und Verbrecher geworden ist und es nur die Sozialdemokraten waren, die den Mut hatten, im Reichstag und in den Landtagen gegen die Machtübertragung an die Nazis zu stimmen,

war zugleich die Stunde ihres größten moralischen Triumphes, die bis heute sozialdemokratische Identität stiftet.

 

Wie viel Leid wären diesem Land und der halben Welt erspart geblieben, wenn die sog. bürgerlichen Kreise der Ermächtigung der Nazis nicht zugestimmt hätten ?

 

Warum hat es die Sozialdemokratie -im Gegensatz zu allen anderen jetzigen politischen Mitbewerbern- geschafft, 150 Jahre zu überstehen,

die Verfolgungen im Kaiserreich und im reaktionären Königreich Bayern ,

die Wirren der Weimarer Republik,

die Verfolgung und Unterdrückung während des 12 Jahre dauernden „Tausendjährigen Reiches“,

die Zwangsvereinigung und Unterdrückung in der SBZ und der späteren DDR ?

 

Nicht, weil wir immer die besseren Menschen in unseren Reihen hatten,

auch nicht, weil wir immer die besten Antworten auf irgendwelche tagesaktuellen Probleme hatten,

 

sondern weil die Grundwerte der Sozialdemokratie,

nämlich

der Schutz des Einzelnen vor Elend und Unterdrückung,

das Streben nach Gerechtigkeit bereits im hier und heute und nicht das Vertrösten auf die überirdische Gerechtigkeit,

die Solidarität mit den Schwachen, nicht nur im eigenen Land, sondern überall

und das Eintreten für Frieden im Inneren und in der Welt,

 

nichts anderes sind als die Kernbestandteile jeder humanen Gesellschaft, die ewig richtig sind und zwar überall auf der Welt:

 

Es geht um die Würde des einzelnen Menschen, im Godesberger Programm genauso wie in der Katholischen Soziallehre und im Grundgesetz.

Damit verträgt es sich nicht, ihn zum Objekt zu machen und als billige Arbeitskraft zur Mehrung des Reichtums einzelner auszubeuten.

 

Weil der Mensch ein Mensch ist, ist er frei geboren und soll es auch bleiben

und hat er Anspruch darauf, seine Talente zu nutzen, sich zu bilden und frei zu entscheiden, was er damit macht,

 

und weil nicht alle gleich sind, sind diejenigen, denen es gut und besser geht, verpflichtet, den anderen zu helfen

 

und weil jeder nur ein Leben hat, ist jedes genauso wertvoll wie das der anderen.

 

Das kann man schon im alten Testament nachlesen, bei Karl Marx genauso wie bei Augustinus und Jean-Paul Sartre.

 

 

150 Jahre Sozialdemokratie sind auch 150 Jahre Kampf für die Demokratie:

 

Der Staat des Kaiserreichs und noch viel mehr der Nazi-Staat, aber auch die DDR waren Herrschafts- und Unterdrückungsinstrumente. Der moderne demokratische Staat hat einen anderen Zweck, er ist die Organisationsform einer komplexen Gesellschaft und hat die Aufgabe, die Würde des einzelnen zu schützen und den Frieden nach innen und außen zu gewährleisten. Das ist nicht mehr der Staat der ostelbischen Krautjunker und Großgrundbesitzer und auch nicht der Staat der Industriebarone und der Großbanken und des Finanzkapitalismus,

sondern auch unser Staat , in dem nicht mehr das Recht des Stärkeren zählt, sondern die Stärke des Rechts,

in dem die Mehrheit entscheidet und Minderheiten geschützt werden.

 

Demokratie ist aber nur eine Organisationsform, wenn sie nicht zugleich auch rechtsstaatlich und sozial ausgerichtet ist. Die Freiheitsrechte, die Menschenrechte, die politischen Rechte brauchen ein Fundament, auf dem sie sich entwickeln können und das ist der Sozialstaat, weil zuerst das Fressen kommt und dann die Moral.

 

Es war leicht, nach der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte gegen den zügellosen Kapitalismus und für die soziale Marktwirtschaft einzutreten. Viel schwieriger war es schon, das gleiche vorher zu tun und es bis heute in Zeiten des Turbo-Kapitalismus nicht aufzugeben. Wir brauchen deshalb keine Belehrungen und Lobreden von sog. Herz-Jesu-Marxisten, die immer dann, wenn es darauf angekommen wäre, umgefallen sind und die bis heute gedrängt werden müssen, z.B. gesetzliche Mindestlöhne einzuführen.

 

Wir wollen und brauchen einen starken Staat im Interesse der Schwachen und der kleinen Leute. Nur die Reichen können sich einen schwachen Staat leisten, weil sie sich kaufen können, was sie brauchen.

 

Die Sozialdemokratie war und ist auch die Partei von „law and order“, nicht im Sinne eines Polizeistaats, sondern im Sinne des Rechtsstaats.

 

Wir sind auch eine bürgerliche Partei in dem Sinne, dass wir für die Bürgerrechte der Staatsbürger eintreten und nicht für die Besitzstände der Klein- und Großbürger. Wenn sich die anderen heute gerne als „bürgerliche“ Parteien bezeichnen und uns damit ausgrenzen wollen, schwillt mir der Kamm.

 

Demokratie funktioniert heute anders als früher. Die Zeit als Politik in Hinterzimmerversammlungen gemacht worden ist, ist vorbei.

Viele sind „verdrossen“, andere wollen jede noch so unbedeutende Frage zum Gegenstand immerwährender Diskussionen im anonymen Netz machen, ohne Verantwortung für Entscheidungen übernehmen zu wollen.

 

Demokratie funktioniert heute anders als vor 150 Jahren, die Feinde der Demokratie aber auch. Geschichte widerholt sich nicht, aber wir müssen alles dafür tun, nie wieder so schwach zu sein, dass sich die Feinde der Demokratie noch einmal durchsetzen können.

 

 

Es ist deshalb nicht nur empirisch gesehen falsch, sondern auch politisch naiv, zu behaupten, die Sozialdemokratie habe ihre geschichtliche Mission erfüllt und könne schadlos von der politischen Bühne abtreten.

 

Ich bin ganz anderer Meinung und davon überzeugt, dass die SPD auch im 21. Jahrhundert trotz gelegentlicher Formschwächen eine gute Zukunft hat, weil die Ideen, von denen Otto Wels 1933 gesprochen hat,

nämlich

die Freiheit des Einzelnen,

das Streben nach Gerechtigkeit

und das Prinzip der Solidarität

ewig und unzerstörbar und heute genauso aktuell sind wie vor 150 oder vor 100 Jahren.

 

Die SPD hat eine gute Zukunft, wenn sie den Rat von Willy Brandt befolgt und auf der Höhe der Zeit bleibt, und das heißt heute,

 

wir müssen die Partei der kleinen Leute bleiben und nicht die Partei der Bosse werden wollen,

es geht nicht darum, die Demokratie marktkonform zu machen, sondern umgekehrt, die Finanzmärkte so zu regulieren, dass sie demokratiekonform werden,

dafür zu kämpfen, dass die Menschen ohne soziale Not leben können, die Kinder und Jungen, die Mütter mit Kindern ebenso wie die Aktiven und die Alten,

dafür zu kämpfen, dass sie keine Angst haben müssen, keinen Platz in der Gesellschaft zu finden, von ihrer Arbeit nicht leben und im Alter von ihrer Rente nicht überleben zu können,

 

dafür zu kämpfen, dass Demokratie in Zeiten von Politikverdrossenheit und Wutbürgern fortentwickelt und wieder mehr Demokratie gewagt wird, die sich nicht in einer „liquid democracy“ im Netz erschöpfen darf, in der es keine Identität und keine Verantwortung gibt.

 

Sozialdemokratische Politik war und ist immer auch „klein, grau, hässlich und schweißtreibend“, wie es Wolfgang Thierse vor kurzem genannt hat.

 

Sozialdemokraten dürfen den Menschen keine Angst machen, sondern Hoffnung. Wir brauchen deshalb auch eine Utopie, eine Vision, eine Erzählung von einer gerechten Gesellschaft, wohin die vielen kleinen grauen schweißtreibenden Schrittchen führen sollen, nämlich zu einer besseren Welt. Und damit beginnt man am besten in Weiden und Rothenstadt und nicht erst in Brüssel und bei der UNO.

 

Ich rede deshalb gegen Verzagtheit und Kleinmut. Wir können stolz auf unser Erbe sein und haben Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft und keinen Grund, uns zu schämen und selbst zu verleugnen.

 

Wir müssen dabei aber mehr sein wollen als nur das „kleinere Übel“. So schlecht waren unsere Leute, ob in der Bundesregierung oder im Gemeinderat nie, dass sie nicht immer besser waren als viele andere. Aber das reicht nicht. Ziel muss es sein, von den Menschen nicht als das kleinere Übel, sondern als die größere Hoffnung wahrgenommen zu werden, dann sind wir auch wieder mehrheitsfähig.

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